Andreas Holzamer / Andreas Krafft (1805 – 1883)
 

 

 

Erster Dirigent des Männergesangverein 1842 Nieder-Olm

Von Katharina Weisrock

Aufnahme 1870 - Bildquelle: T.G.Tempel-Designer AGD

 

Die Nieder-Olmer Sängervereinigung 1842 feiert 2012 ihr 170jähres Bestehen. Der „Männergesangverein 1842 Nieder-Olm“ zählt anfangs 27 Mitglieder. Gründungs-präsident ist Dr. Rudolf Schwarz, praktischer Arzt, Brennereibesitzer und Bürgermeister (1848 - 1853).

Erster Dirigent, von 1842 bis 1878, wird der Volksschullehrer Andreas Holzamer. 1805 in Heusenstamm geboren, arbeitet er als Lehrer zunächst in Bodenheim und Osthofen. 1841 kommt er als erster Lehrer an die Gemeindeschule Nieder-Olm. 1848/49 engagiert er sich aktiv für die Märzrevolution. Seiner demokratischen Gesinnung bleibt Holzamer auch in der nachfolgenden Restaurationszeit treu. Sein konsequentes Eintreten für eine von kirchlichem Einfluss unabhängige Schule bringt ihn, mit anderen hessischen Lehrern, in Konflikt mit den Instanzen der katholischen Kirche. Der Mainzer Bischof Ketteler lässt ihn 1860 zwangsweise pensionieren. Verbunden mit der ersten Lehrerstelle am Ort ist das Amt des Organisten in der katholischen Kirche St. Georg. Mit der Entlassung aus dem Schuldienst verliert er auch das Recht, dort die Orgel zu spielen. Der 55jährige Familienvater gründet eine überkonfessionelle Privatschule in seinem Privathaus.

Der Lehrer und Schriftsteller Wilhelm Holzamer (1870 - 1907) fühlt sich seinem Großvater Andreas eng verbunden:

„Ich wurde verfolgt in unserem Dorfe wegen meines Wesens, meiner Sprache, meiner Abstammung – vom alten Holzamer, der jetzt in meinen Büchern Andreas Krafft heißt. Er war ein Revolutionär von 30 und 48 her, er hat einen schweren Kampf mit dem Bischof Ketteler in Mainz gekämpft und war ein besiegter Sieger. Er ist die stärkste Persönlichkeit, die mir in meinem Leben begegnete. Er war ernst, streng, vornehm, sicher. Mit sieben Jahren kam ich zu ihm in seine Privatschule, lernte gleich Französisch und wurde in religiöser Beziehung ganz frei erzogen. (Zum Religionsunterricht musste ich in die Volksschule gehen. Aber da ließ man mich in der einen Stunde, die man mich mal sah, natürlich links liegen.) Ich blieb in den Händen meines Großvaters, der auch meine musikalische Ausbildung überwachte, bis Kranksein es ihm versagte, an mir zu modeln. Dann kam ich nach Mainz in die Schule, gewissermaßen von seinem Sterbebett weg.“ (W.H. Brief v. 8.2.1905)

Mehrfach würdigt Wilhelm seinen Großvater in seinen Werken. Dessen erzwungener Abschied von der Orgel schildert die Erzählung: Sein letztes Hochamt. Die literarische Figur des Lehrers Andreas Krafft tritt auch in den Romanen Der arme Lukas, Der Entgleiste, Vor Jahr und Tag und in dem Drama Um die Zukunft auf.

Andreas Holzamer stirbt 1883. Bis ins hohe Alter dirigiert er den Nieder-Olmer Gesangsverein. Seinen hohen musikalischen Anspruch setzt er mit strenger Disziplin durch. Auch den in Zornheim 1845 gegründeten Männergesangverein leitet er als zweiter Dirigent, der genaue Zeitraum seiner dortigen Tätigkeit ist nicht überliefert. Von 1861 - 63 war er auch Leiter des ersten Männergesangvereins in Stadecken. Der dortige Verein wurde 1865 neu gegründet. Ihre Gesangskunst messen die rheinhessischen Chöre im 19. Jahrhundert auf häufig ausgetragenen Gesangsfesten. Im Juni 1846 findet ein Wettgesang in Mainz statt, an dem dreizehn rheinhessische Gesangsvereine teilnehmen, die „bis zu einer Entfernung von 4 bis 5 Stunden von Mainz“ entfernt liegen (das Wegemaß Stunde entspricht etwa 5 km). Der Nieder-Olm Chor erringt den dritten Preis.

Der Gesangverein Liederkranz in Wörrstadt wird 1845 gegründet. Für den Zeitraum 1850 bis 1869 liegen dort keine genauen Angaben vor. Die Chronik berichtet aber von einem Jubiläumsfest am 12. Juni 1870, an dem alle Vereine der umliegenden Orte teilnehmen.

Die Anreise mit Pferdekutschen, die Aufstellung der Vereine und der Einzug in die Festhalle setzten eine lange Durststrecke vor den eigentlichen Gesangsauftritt. Weniger streng geführte Chöre präsentieren nach entsprechendem Bier- oder Weinkonsum ihre Preislieder nicht immer auf höchstmöglichem Niveau. Holzamers Gesangsfest schildert die Vorbereitung und Teilnahme der Nieder-Olmer Sänger an einem Wörrstadter Gau-Gesangsfest.

Inwieweit diese Erzählung auf einer historischen Begebenheit beruht, ist nicht nachweisbar. Die Jahresbücher von 1866/67 der 1831 gegründeten Mainzer Liedertafel vermerken keine Teilnahme an rheinhessischen Gesangsfesten. Das beschriebene Gesangsfest aber müsste 1866 stattgefunden haben. Das kann man von der Figur des verstorbenen Fahnenträgers Veit Stauder herleiten, für den am Vorabend des Gesangsfests ein Nachfolger gesucht wird. Der historische Veit Stauder (1790 – 1865) nimmt als französischer Soldat an den napoleonischen Kriegen in Spanien teil. 1814 kehrt er nach Nieder-Olm zurück. Er baut die Wirtschaft zur schönen Aussicht und betreibt eine Ziegelei.

Wohl alle im Text auftretenden Personen sind authentisch, einige lassen sich durch Quellenfunde belegen:

Hamendam (Johann Adam) Faust, wurde erster Leiter der 1886 gegründeten Nieder-Olmer Feuerwehr. Pankraz Klein, Gastwirt Zum Engel wird in einem Verzeichnis der „Weinorte der Rheinlande“ von 1866 neben Peter Eckes als Gastwirt in Nieder-Olm aufgeführt. Jakob Philipp Bittong, geb. um 1826 in Nieder-Olm, studierte von 1846-48 in Gießen katholische Theologie und Jura. 1849 verzeichnet das Universitätsregister hinter seinem Namen: „als Freischärler durchgegangen“. Der Präsident Rudolf Schwarz ist praktischer Arzt in Nieder-Olm. Dem Freund und Weggefährten des Großvaters erweist Wilhelm Holzamer in seinem Drama Um die Zukunft und in dem Romanfragment Die Armenbank seine Referenz:

Der alte Bürgermeister Schwarz. Wie der gestorben ist, ging eine Welt hin. ... Für uns in unsrem Nest eine Welt! ... Es ist eine ganze Zeit, die mit ihm vergangen ist. ... Und wie war der Bürgermeister ohne seine eigenen Interessen! Ganz, prachtvoll ganz!“ 

 

Grabplatte,
an der Nordseite
der Trauerhalle,
Friedhof
Nieder-Olm